Beitrag von Gastschreiber

 

Ein Mercedes überholt hupend die klapprige Pferdekutsche, der dürre Gaul plagt sich gerade am schweren Schrott aus einem Villenviertel ab. Das Brauchbare wird weiterverkauft, der Rest landet im nächsten Bachbett. Vor dem Restaurant nebenan Kinder, die um ein paar Pesos oder ein Stück Pizza betteln. Eine elegante Dame steigt aus dem Auto und würdigt sie keines Blickes. Der ganz normale Wahnsinn in Managua. Nicaragua gilt nach wie vor als eines der ökonomischen Schlusslichter der westlichen Hemisphäre. Die Einkommensschere schreit zum Himmel. Trotz anderslautender Parolen sind Ausbeutung und Klassenteilung tief im kollektiven Bewusstsein verankert. Die politische Elite und ein paar Familienclans haben alle Fäden in der Hand. Während diese ein Leben im Luxus führen, ächzt die Mittelschicht unter hohen Lebenshaltungskosten, schlechten Arbeitsbedingungen und politischen Repressalien. Die große Masse der Armen hangelt sich unterdessen mit Einfallsreichtum und erstaunlichem Optimismus von Tag zu Tag. Zwei Dinge haben sie alle gemeinsam: 1. Den großen Stolz auf ihr kleines Land. 2. Weder in der Villa mit Pool noch in der Wellblechhütte darf eine ordentliche Portion „Gallo Pinto“ auf dem Frühstückstisch fehlen. Das Nationalgericht aus Reis und Bohnen macht das Leben schließlich erst lebenswert.

 

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Mittelamerika ist ein zwiespältiger Flecken Erde. In die Schlagzeilen kommen Länder wie Honduras oder El Salvador meist wegen mörderischer Drogenbanden oder bitterer Armut. In den Schaufenstern der Reisebüros strahlen währenddessen die Strände von Costa Rica und Panama um die Wette. Im toten Winkel dieser beiden Extreme lag für lange Zeit Nicaragua. Was die Sicherheitslage angeht, ist es ein Lichtblick im Vergleich zu seinen nördlichen Nachbarn, in denen ein paar Dollar Schutzgeld oft mehr wert sind als ein Menschenleben. Freilich ist es nicht frei von Kriminalität, doch geht es in Nicaragua so gut wie nie um Leben und Tod. Auch die Wirren des Bürgerkriegs der 1980er Jahre sind längst vorüber und für den Besucher oder die Besucherin sind sie nur noch eine Anekdote im Reiseführer. Nicaraguas Wirtschaft wächst seit Jahren kontinuierlich und der Tourismus ist einer ihrer Grundpfeiler. Tatsächlich hat der größte Staat Mittelamerikas (etwa eineinhalb Mal so groß wie Österreich) überraschend viel zu bieten: Zwischen einer Kette aktiver Vulkane liegen riesige Süßwasserseen und jede Menge üppiger Natur. Surfer und Surferinnen kommen an der Pazifikküste auf ihre Kosten und das karibische Meer lädt zum Tauchen und Schnorcheln ein. Ganz zu schweigen von den hübschen Kolonialstädtchen, dem ausgezeichneten Rum und den gutgelaunten Menschen, die sich selber schlicht „Nicas“ nennen. Für Reisende ist das alles für kleines Geld zu haben – das Preisniveau ist nur halb so hoch wie etwa im Nachbarland Costa Rica. Der Tourismus wächst, aber von Massentourismus kann noch keine Rede sein. Ein kleines Paradies möchte man meinen.

 

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Doch Nicaragua gilt auch als eines der korruptesten Länder Lateinamerikas. Das reicht vom Schmiergeld bei der Verkehrskontrolle über Wahlmanipulationen bis hin zur Veruntreuung von öffentlichen Geldern. Jeder der kann, sichert sich ein Stück vom Kuchen. Irgendwie verständlich, doch Gemeinwohl geht anders. Das Regime setzt auf Populismus statt auf nachhaltige Investitionen in die Zukunft. Die einst blutig errungene Demokratie und die Meinungsfreiheit verlieren von Jahr zu Jahr an Boden. Die Revolution frisst – wie so oft – auch in Nicaragua ihre Kinder. Trotz aller Widrigkeiten konnten Regierung und NGOs im Kampf gegen Armut und Analphabetismus beachtliche Erfolge erzielen. Das Land hat in den letzten zwanzig Jahren deutlich an Lebensqualität gewonnen. Zudem gibt es eine kostenlose Krankenversorgung und gewisse Sozialleistungen, die allerdings nicht selten an die Parteizugehörigkeit gebunden sind. „Dale pues“ sagt der Nica dazu, „passt schon“, denn für viele wiegt ein geschenkter Sack Bohnen eben mehr als ein lumpenreiner Rechtsstaat. Dumm sind sie nicht, der Herr Comandante und seine Gattin.

 

Buchtipp zum Thema: Warum Nationen scheitern: Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut – Daron Acemoglu & James A. Robinson

 

 

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